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Hausärztin Nicola Buhlinger-Göpfarth setzt sich seit Jahren für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen in Entscheidungsgremien des Gesundheitswesens ein. Ihre Botschaft an die jüngere Medizinerinnen-Generation: Hängt euch rein!

Datum: 27.05.2021 / Ressort: Versorgung

Dr. Nicola Buhlinger-Göpfarth ist niedergelassene Hausärztin in Pforzheim. Sie ist Mitglied im Landesvorstand Baden-Württemberg des Deutschen Hausärzteverbandes und Gründungsmitglied des Forum Hausärztinnen, dessen bundespolitische Sprecherin sie auch ist. Seit 2010 ist Nicola Buhlinger-Göpfarth außerdem Lehrbeauftragte der Universität Heidelberg in der Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung. Sie ist verheiratet und hat drei erwachsene Kinder. Nicola Buhlinger-Göpfarth ist Gründungsmitglied und Vorständin des Netzwerks Spitzenfrauen Gesundheit. - Ein Interview aus dem #AgendaGesundheit Magazin.

 

Wann haben Sie gemerkt, dass Sie sich für Frauen in der Gesundheit politisch engagieren müssen?

Das hat mit der zunehmenden Feminisierung in der Medizin zu tun. Immer mehr Frauen arbeiten im Gesundheitssektor und damit steigen auch die frauenspezifischen Fragen. Zum Beispiel, wie sich Beruf und Familie vereinbaren lassen. Ich habe gemerkt, dass der Hausärzteverband darauf nicht vorbereitet ist. Deshalb habe ich mit zwei Kolleginnen 2016 das Forum Hausärztinnen gegründet.

Was machen Sie da genau?

Wir treffen uns quartalsweise und sondieren Themen, die Medizinerinnen besonders bewegen. Das Forum hat sich zum Renner entwickelt, das es mittlerweile auch auf Bundesebene gibt. Auf unsere Initiative hat der Verband eine Frauenquote eingeführt. Denn wir haben in unserer Arbeit schnell gesehen, dass es in der Gremienbesetzung hakt.

Woran denn?

An einer paritätischen Besetzung. Mehr als 75 Prozent der Beschäftigten im Gesundheitswesen sind Frauen. In der Gremienarbeit kommen sie aber kaum vor. Zehn von 17 Kassenärztlichen Vereinigungen haben keine einzige Frau in ihrem Vorstand. Die zwanzig größten Krankenkassen in Deutschland versichern 62 Millionen Menschen, mehr als die Hälfte davon sind Frauen. Rund zwei Drittel ihrer Beschäftigten sind weiblich, in den Vorständen sitzen aber insgesamt nur vier Frauen. Das muss man sich mal vorstellen.

Wo sehen Sie die Gründe für dieses eklatante Ungleichgewicht?

Es gibt nicht den einen Grund. Das Missverhältnis ist ein gesellschaftliches Strukturproblem. Während männliche Hausärzte mit Mitte 30 in ruhigeres Fahrwasser gleiten, sind Medizinerinnen mit Beruf und Familie vollkommen ausgelastet. Die Care-Arbeit bleibt im Wesentlichen immer noch bei den Frauen hängen. Sie haben kaum Zeit, sich berufspolitisch zu engagieren. Tun sie es doch, treffen sie auf gewachsene Gremienstrukturen, die von Männern bestimmt werden. Wir haben in der Ärztekammer in Baden-Württemberg 15 Ausschüsse, davon sind 13 mit Männern als Ausschussvorsitzende besetzt. Angesichts dieser homogenen Besetzung wird klar, dass Entscheidungen an den Lebenskonzepten von Frauen vorbeigehen müssen.

Was meinen Sie damit, dass Entscheidungen an den Lebenskonzepten von Frauen vorbeigehen?

Ein Beispiel: In den Weiterbildungsordnungen zur Facharzt-Anerkennung steht in vielen Kammern noch, dass Frauen, die während der Weiterbildung in den Mutterschutz gehen, die Zeit nachholen müssen. Kollegen aber, die nach einem Snowboard-Unfall nicht an einer Weiterbildung teilnehmen können, müssen den Stoff nicht nacharbeiten. Wir haben das Thema in den entsprechenden Gremien besprochen und festgestellt: Dem vornehmlich männlich besetzten Gremium war das gar nicht bewusst. Weil sie nicht mitgedacht haben, was einer Frau während einer Weiterbildung alles passieren kann. Zum Beispiel, dass sie schwanger wird. Es ist nie klug, das Wissen und die Expertise von Frauen nicht miteinzubeziehen.

Seit 20 Jahren studieren mehr Frauen als Männer Medizin und weiterhin sind 90 Prozent der Lehrstühle und Klinikdirektionen mit Männern besetzt. Kann die Frauenquote das ändern?

In jedem Fall. Die Quote ist ein wichtiges Instrument für Parität. Und gleichzeitig ein Zugeständnis der Politik, dass  es strukturelle Unterschiede gibt. Laut Grundgesetz sind Männer und Frauen gleichberechtigt, weil sie es in der Realität nicht sind, gibt es die Quote oder Frauenförderprogramme.

So ernst scheint die Politik eine paritätische Besetzung in Führungspositionen nicht zu nehmen. Nach dem neuen Gesetzentwurf müssen Unternehmen keine Frau in die Chefetage berufen, wenn sie das begründen können. Was halten Sie davon?

Auf die Begründung einer Nichtbesetzung wäre ich sehr gespannt. Es kann gar nicht sein, dass bei so viel Kompetenz und so vielen Frauen, die in der Gesundheit unterwegs sind, niemand gefunden wird. Wenn die Frankfurter Börse sagt, sie findet keine Aufsichtsrätin, kann ich nicht mitsprechen, das ist nicht mein Business. Aber für meinen Bereich, den Gesundheitssektor, glaube ich ganz fest, dass es genügend Spitzenfrauen gibt.

Die Quote allein reicht also nicht aus, es muss auch viel Lobbyarbeit geleistet werden, um andere zu überzeugen und ein Umdenken anzustoßen?

Unbedingt. Es ist wichtig, konsequent und mit Nachdruck Dinge einzufordern und vor allem sich zu vernetzen. Wir haben deshalb im November „Spitzenfrauen Gesundheit“ gegründet. Mit dem Verein  wollen wir Banden bilden, wie das Männer schon immer mit den Rotariern oder im Lions Club tun. Unser Ziel ist, uns gegenseitig zu empowern, uns zu wichtigen Themen zusammenzuschließen oder auch untereinander Jobs zu vermitteln, wenn wir meinen, eine Kollegin könnte auf die Stelle gut passen. Und natürlich geht es uns auch um eine ganz klare Einflussnahme auf die Gesetzgebung hin zu mehr Parität.

Sie bezeichnen sich als Feministin. Was ist Ihre Botschaft an junge Medizinerinnen und auch an junge Mediziner: Was müssen sie tun, um die Situation von Frauen in der Gesundheit zu verbessern?

Ganz klar: Lean in! Hängt euch rein! Setzt euch mit an den Tisch, stellt Forderungen! Und: Traut euch auch mehr zu! Ich habe oft das Gefühl, dass es bei der jüngeren Generation an Mut hapert.

Und Ihre Botschaft an die Männer?

Ihr könnt nur profitieren, wenn ihr bereit seid, euch mit Frauen an den Tisch zu setzen. Das macht das Leben bunter und diverser, weil man Anstöße bekommt, in andere Richtungen zu denken. Ich glaube, sagen zu können: Die meisten Männer, mit denen ich in den Gremien arbeite, erleben dies durchweg positiv.

 

Dieser Beitrag stammt aus dem #AgendaGesundheit Magazin. Die aktuelle Ausgabe findet sich im Anhang dieser Seite.