Vorbild für ein Projekt der Bundesregierung

„TranslateNAMSE“ sorgt für eine Verbesserung der Diagnostik und der Versorgung von Patienten mit seltenen Erkrankungen

Datum: 04.07.2022 / Ressort: Versorgung

Seltene Erkrankungen sind sehr verschiedene und meist komplexe Krankheitsbilder, die häufig mit gesundheitlichen Einschränkungen oder einer eingeschränkten Lebenserwartung einhergehen. Viele seltene Erkrankungen sind nicht heilbar. Die Betreuung der Patienten und ihrer Familien sowie die Linderung der Symptome haben daher eine große Bedeutung für die Betroffenen. Allein in Deutschland sind etwa vier Millionen Menschen davon betroffen. Das Versorgungsprogramm TranslateNAMSE soll die medizinische Versorgung der Betroffenen verbessern, insbesondere durch fachübergreifende Zusammenarbeit von Experten und hochspezialisierter Gen-Diagnostik, schnelle Diagnosestellung und Einleitung einer geeigneten Therapie. Dies kann den Leidensweg der Betroffenen bis zum Beginn einer adäquaten Versorgung erheblich verkürzen.

Die AOK Baden-Württemberg trägt mit der Teilnahme am Versorgungsprogramm für seltene Erkrankungen dazu bei, die Versorgung ihrer Versicherten mit seltenen Erkrankungen, bei denen mit den vorhandenen Strukturen der Regelversorgung bisher keine Diagnose gestellt werden konnte, zu verbessern und durch den interdisziplinären Ansatz des Programms schnell eine gesicherte Diagnose zu stellen und eine geeignete Therapie zu beginnen.

Im Interview spricht Prof. Dr. med. Olaf Rieß, Ärztlicher Direktor am Institut für Medizinische Genetik und Angewandte Genomik der Uniklinik Tübingen, über das Projekt "TranslateNAMSE, die Herausforderungen einer seltenen Erkrankung für Betroffene und deren Familien, den Stand der Wissenschaft und gibt einen Ausblick für die Zukunft.

Wie schätzen Sie die Entwicklung der Behandlung und Erforschung von seltenen Erkrankungen (SE) über die letzten Jahre ein?
Prof. Dr. med. Olaf Rieß: "Wir haben gewaltige Fortschritte gemacht und stehen dennoch erst am Anfang. Das hängt auch mit dem enormen Potential der Genommedizin zusammen und mit dem Innovationspotential der neuen pharmazeutischen Industrie. Da ca. 80% der SE eine genetische Grundlage hat, ist mit der starken Entwicklung der Humangenetik in den letzten Jahren ein gewaltiger Sprung bei der Ursachenfindung gemacht worden, jeden Monat werden auch heute noch ca. 50 neue genetisch bedingte Erkrankungen gefunden. Therapeutisch möchte ich die spinale Muskelatrophie (SMA) nennen, die jetzt trotz enormer Kosten möglich geworden ist, und schon wird man daher ein genetisches Bevölkerungsscreening für diese Erkrankung implementieren."

Welche Rolle spielt dabei das Projekt TranslateNAMSE?
Prof. Dr. med. Olaf Rieß: "Das Projekt „TranslateNAMSE“ wurde im Rahmen des Innovationsfonds des gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) mit maßgeblicher Unterstützung der AOK Baden-Württemberg sowie der BARMER zur Verbesserung der Diagnostik und Versorgung von Patienten mit SE finanziert. Einer der Schwerpunkte des Innovationsprojektes war die Einführung der sogenannten Exomsequenzierung in die Diagnostik von SE, neben der Implementierung von lokalen und standortübergreifenden interdisziplinären Fallkonferenzen, und der Verbesserung der IT Strukturen. Ein wichtiger Punkt war auch die sogenannte Transition der Betreuung von pädiatrischen Patienten in die Erwachsenenmedizin. Zurückkommend auf die Diagnostik: Insgesamt wurden in TranslateNAMSE mehr als 5600 PatientInnen gesehen, bei denen für 28% der PatientInnen eine Exomdiagnostik vorgeschlagen wurde. Von diesen wurde bei 32%, also insgesamt bei mehr als 500 PatientInnen eine kausale krankheitsverursachende Veränderung gefunden. In ca. 70% der Patienten wurde die Diagnose nur einmal gestellt, es handelte sich meistens um ultraseltene Erkrankungen. In diesem Gesamtprozess sind nahezu 15.000 Fallkonferenzen durchgeführt worden."

Wie hat sich das Projekt seit seiner Einführung im Jahr 2017 entwickelt und wo gibt es noch Entwicklungspotenzial?
Prof. Dr. med. Olaf Rieß: "Aufgrund des Erfolges ist TranslateNAMSE auch als Vorbild und beratender Partner für das genomDE Projekt der Bundesregierung geworden, mit der ab 2024 eine Gesamtgenomsequenzierung im Rahmen des Modellvorhabens §64e des SGB V für ausgewählte PatientInnen vorbereitet werden soll. Das wird ein gewaltiger Schritt nach vorn. Damit wird TranslateNAMSE auf weitere universitäre Standorte ausgeweitet, das gesamte Spektrum der SE im pädiatrischen wie auch im Erwachsenengebiet abgedeckt und von der Datentiefe wird nahezu das gesamte Genom, also auch die regulatorischen und andere funktionelle Bereiche eines Gens abgedeckt. Bereits jetzt sind Selektivverträge nach §140 mit ausgewählten weiteren Zentren für Klinische Genommedizin im Rahmen der Zentren für Seltene Erkrankungen abgeschlossen worden, die für komplexe SE eine Exomweite Sequenzierung abrechnungstechnisch auch möglich machen. Wir benötigen die Ausweitung auf stationär kritisch kranken Kinder mit deren Eltern, was mit den bestehenden OPS Ziffern nicht abgebildet ist, auf einige wenige stationäre Patienten, die im Rahmen der Betreuung und Therapiefestlegung ein schnelles Genom benötigen, sowie die Diagnostik bei akut verstorbenen PatientInnen mit Verdacht auf eine genetisch bedingte Erkrankung, um das Risiko für die Angehörigen zu ermitteln und ggf. der Manifestation einer schweren Erkrankung vorzubeugen. Letzteres betrifft sehr wenige PatientInnen.
Über die direkte Anwendung hinweg und zur Verbesserung der Qualität der Diagnostik sollte man Register für SE schaffen, wie auch Register für heutzutage klinisch noch nicht interpretierbare Genomvarianten.
Wir konnten in einem großen europäischen Netzwerk für die Verbesserung der Diagnosestellung von SE, welches SOLVE-RD genannt wird, zeigen, dass eine reine Re-Analyse von bestehenden Exomdaten durch mehrere Bioinformatikerteams (Data Analysis Task Force; DATF), die jeweils auf bestimmte Krankheitsmechanismen spezialisiert sind, und in Zusammenarbeit mit den klinische Spezialisten und Humangenetikern (Data Interpretation Task Force, DITF) zeigen, dass man dadurch allein, ohne eine erneute Sequenzierung der Daten, weitere 12% der genetischen Ursachen klärt. Aufgrund der starken Steigerung der diagnostischen Sensitivität, die bei Gesamtgenomanalysen noch deutlich höher liegen dürfte, sollte man ein deutsches DATF-DITF Netzwerk gründen, welches bspw. über das BMBF gefördert werden könnte.
Auch Technologien entwickeln sich weiter, neue Sequenziertechnologien sind bereits für die Forschung im Einsatz. Die Methoden auf diesen neuen Geräten müssen für die Diagnostik entwickelt werden, und neue neuartige Diagnostikansätze, wie RNA Sequenzierung, Analyse des Epigenoms oder Einzelzellsequenzierung im Rahmen von tumortherapeutischen Fragestellungen müssen so standardisiert werden, dass sie in die Diagnostik überführt werden können. Dafür brauchen wir hochspezialisierte Diagnostikkompetenzzentren, die ebenfalls durch das BMBF finanziert werden sollten, da diese auch große Forschungsverbünde begleiten könnten.
Ich hatte es bereits erwähnt, viele der genetischen Varianten, die wir im Rahmen der Genomanalyse finden, sind im klinischen Kontext noch nicht interpretierbar. Wir sollten ein Netzwerk an Forschungsarbeitsgruppen bilden, die sich der experimentellen Aufarbeitung dieser Varianten annehmen, um möglichst schnell auch die Diagnostik zu unterstützen. Und schließlich wäre ein Forschungsnetzwerk zur Modellierung von ultraseltenen Erkrankungen, wie wir es in SOLVE-RD erfolgreich eingeführt haben (RDMM) notwendig, um neue Gene und neue Mutationsmechanismen zu validieren.
Ich bin sehr optimistisch, dass sich innerhalb weniger Jahre insbesondere in Deutschland und Europa ein deutlicher struktureller und wissenschaftlicher Fortschritt abzeichnen wird."

Wo liegen die größten Schwierigkeiten bei der Diagnostik einer seltenen Erkrankung?
Prof. Dr. med. Olaf Rieß: "Ca. 80% aller SE haben eine genetische Ursache. Dies ist die große Chance, mit „einer“ Methode, der Genomsequenzierung, einen Großteil der Ursachen bei den Patienten zu finden. Prinzipiell kann man (a) technisch-methodische Limitationen nennen, (b) bioinformatisch-interpretative Leistungen der Genomdaten, sowie (c) Patientenpfade (klinische Netzwerke), um an die Möglichkeit einer hochspezialisierten Diagnostik zu kommen.
Zu (a): Mit Einführung der Genomdiagnostik wird ein großer Schritt nach vorn zur Verbesserung der diagnostischen Sensitivität getan sein. Dennoch benötigt man andere Technologien um Genommodifikationen (Epigenom) oder lange Repeatexpansionen als Ursache von neurodegenerativen Erkrankungen oder Epilepsien (long read Sequenzierung) zu erfassen. Hier könnte man die Überführung in die Diagnostik im Rahmen der Bildung von Diagnostikkompetenzzentren vorbereiten. Der Nachweis sehr komplexer Genomarrangements als Ursache von genetisch bedingten Erkrankungen benötigt hochspezialisierte Expertengruppen, die oftmals an einem Standort allein nicht vorhanden sind. Die Gründung von nationalen DATFs wäre hier ein wesentliches zu etablierendes Strukturelement. Am Schwierigsten wird wahrscheinlich in der Fläche eine Versorgung für Patienten mit SE zu erreichen. Wann muss der behandelnde Arzt an eine SE denken? Hier müssen wir sehr früh, bereits im Medizinstudium, eine entsprechende Ausbildung gewährleisten, die im Rahmen der Weiter- und Fortbildung kontinuierlich ausgebaut werden muss. Am Tübinger ZSE haben wir daher bereits 2011 eine Fortbildungsakademie (FAKSE) für die Ärzte erfolgreich etabliert, in der wir fokussiert auf bestimmte Ärztegruppen eine entsprechende Fortbildung kontinuierlich anbieten. Auch werden die europäischen Referenznetzwerke für SE auf breiterer Basis in Deutschland ausgeweitet."

Welche Rolle spielt das Neugeborenen-Screening bei der Diagnostik seltener Erkrankungen?
Prof. Dr. med. Olaf Rieß: "Das Neugeborenenscreening hat ein grosses Potential für eine frühe Diagnostik seltener Erkrankungen, prinzipiell vor dem Auftreten der ersten Krankheitszeichen. Im Moment beruht das Neugeborenenscreening auf einer Richtlinie des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen (G-BA) aus dem Jahre 2005 und fokussiert auf wenige angeborene Erkrankungen des Stoffwechsels, des Hormon- und Immunsystems wie auch der Mukoviszidose, im Wesentlichen basierend auf Eiweiß-Biomarker. Kürzlich ist das erste genetische Screening für die spinale Muskelatrophie eingeführt worden. Je mehr Therapien für SE krankheitsverhindernd, krankheitsverzögernd oder stark abmildernd entwickelt werden, die sehr früh angewandt werden müssen, um so stärker wird durch Patientenverbände national wie auch europäisch, ein genomweites Screening gefordert. Das wäre technisch möglich, hat aber viele offene ethische, rechtliche und klinische Fragen. Es ist unsere Verantwortung als Ärzte und Gesellschaft, diese Fragen jetzt anzugehen, damit wir sehr schnell ein klares Konzept für die Verwendung von Genomdaten bei Neugeborenen und Kindern haben, bevor man unter Zeitzwang schnelle Lösungen erarbeitet. Geklärt werden muss vor allem welche Gene in welchem Alter analysiert werden dürfen (Stufendiagnostik), welche Daten an wen mitgeteilt werden dürfen, und wie man mit Zusatzbefunden umgeht. Ich bin aber sicher, dass es ein genomweites Neugeborenenscreening geben wird, da einige europäische Länder diesbezüglich bereits Pilotstudien durchführen."

Wie kann es gelingen, ambulant tätige (Kinder-)Ärzte, die ja oft erste Ansprechpartner auch für diese Patienten bzw. deren Eltern sind, für das Thema zu sensibilisieren?
Prof. Dr. med. Olaf Rieß: "Es hat sich in den letzten Jahren viel getan. Das Thema wurde und wird in den Medien verstärkt angenommen, da uns die Schicksale der Patienten stark berühren. Durch die gegründeten ZSEs ist es auch für die niedergelassenen Ärzte einfacher, einen kompetenten Ansprechpartner in der Nähe der Patienten zu finden (siehe SE-Atlas; https://www.se-atlas.de/home/). Alle Zentren haben diesbezüglich einen klaren Ansprechpartner, den Ärztelotsen. In der allgemeinen Fachpresse haben die SE einen festen Platz bekommen. Und man darf die aufgeklärten Patienten in diesem Prozess nicht vergessen, die u.U. die ersten sind, die den Arzt darauf ansprechen, dass es sich eventuell um eine SE handelt. Ich behaupte nicht, dass hier bereits alles überall gut läuft, aber wir sind auf einem guten Weg, die Patienten an die Zentren zu bringen."

Seltene Erkrankungen sind meist nicht heilbar. Das gilt für andere chronische Erkrankungen aber auch. Was sind die wesentlichen Unterschiede zwischen einer chronisch verlaufenden Seltenen Erkrankung und einer chronischen Erkrankung wie Diabetes oder Asthma?
Prof. Dr. med. Olaf Rieß: "Diese Frage ist nicht pauschal zu beantworten. In Deutschland haben wir ca. 8 Mio Menschen mit Diabetes, aber auch 4 Mio Patienten mit einer SE. Unter dem Begriff „Diabetes“ werden nur wenige Erkrankungen zusammengefasst, wohingegen wir ca. 6000-8000 unterschiedliche SE kennen. Es gibt ca. 1100 Diabetesschwerpunktpraxen in D, aber nur ca. 30 ZSEs. Jeder Hausarzt betreut statistisch gesehen ca. 100 Patienten, das Krankheitsbild ist daher fast allen Ärzten auch von der Betreuung her vertraut, es gibt Managementstrategien bei der Ernährung, Bewegung, Blutzucker senkende Medikamente und das Insulin. Relativ wenige und sehr effiziente therapeutische Maßnahmen. Diese Therapie ist bei den SE sehr viel komplexer; für die (monogene) Mukoviszidose z.B. gibt es mehrere Medikamente, die sogar nur bei bestimmten unterschiedlichen Mutationen effektiv sind. Aber die Pharmaindustrie hat sehr wohl erkannt, dass hier ein starker medizinischer Bedarf und auch Markt vorliegt. Die Behörden haben reagiert, dass sie den Patentschutz für Medikamente für SE verlängert haben und sie haben die Zulassungswege vereinfacht und beschleunigt. Bereits heute sehen wir effiziente Gentherapien und Enzymersatztherapien, die in den kommenden Jahren stark zunehmen werden."

Häufig haben Seltene Erkrankungen genetische Ursachen. Eine Genom-Analyse kann hier Aufschluss geben. Sehen Sie darin auch Risiken? Und falls ja: Welche?
Prof. Dr. med. Olaf Rieß: "Genetische Daten sind besonders schützenswerte Daten, da sie „unwiderrufbar“ sind, Risiken für sich später manifestierende Erkrankungen beherbergen und meist relevant für unmittelbare Angehörige sind. Daher ist der Umgang mit genetischen Daten in Deutschland durch ein Gendiagnostikgesetz gut und umfassend geschützt, so dass Arbeitgeber, Versicherungen auch Krankenkassen auf die erhobenen Daten kein Zugriffsrecht haben. Der Patient/die Patientin legt fest, wer seine/ihre genetischen Daten erhalten darf. Unsere genetischen Daten sind daher auch vom Klinikumsinformationsnetz separat mit einer eigenen Software gehandhabt.
Dennoch, der Umgang mit dem Wissen für ein hohes Risiko für beispielsweise eine progrediente nicht heilbare Erkrankung ist nicht für jede Person einfach. Eine Person, die schon erkrankt ist, wird meist offener für eine umfassende Genomuntersuchung sein, da er/sie sich die Erklärung der Krankheitsursache und potentiell auch eine bessere Therapie für seine/ihre Erkrankung erhofft. Eine gesunde Risikoperson andererseits, wird eher länger sorgfältig abwägen ob und wann man einen genetischen Test durchführen lassen will. Generell gilt daher auch das Recht auf Nichtwissen und für uns als Humangenetiker das Dogma der „nichtdirektiven“ Beratung. 
Insbesondere bei Kindern brauchen wir klare Regelungen, was aus den Genomdaten ermittelt und wann und wem diese Daten mitgeteilt werden. Generell sollte gelten, dass Zusatzbefunde i.d.R. nur nach erneuter Beratung im Erwachsenenalter mitgeteilt werden."

Welche medizinischen Fachgebiete sind in diesem Projekt vernetzt?
Prof. Dr. med. Olaf Rieß: "Zentral bei TranslateNamse waren 3 medizinische Fachrichtungen: Pädiatrie, Neurologie und Humangenetik. Sie bildeten auch den Kern der interdisziplinären Fallkonferenzen (IDF). Bei Bedarf wurden bei den IDF mit einbezogen: Radiologie, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Augenklinik, HNO, usw.. Im TranslateNamse Projekt waren darüber hinaus aber auch Gesundheitsökonomen aus Dresden mit einbezogen worden, schließlich geht es auch darum zu zeigen, dass man mit einer schnellen Diagnosestellung durch humangenetische Methoden Kosten für die PatientInnen und deren Eltern, wie auch für die Krankenkassen einsparen kann. Der Gesamtprozess wurde darüber hinaus durch das Berlin School of Public Health evaluiert. Schließlich waren mit der ACHSE e.V. (Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen) PatientenvertreterInnen im Gesamtprozess beteiligt."

Ist psychologische und bei Bedarf auch eine psychosoziale Beratung mit vorgesehen?
Prof. Dr. med. Olaf Rieß: "Patienten mit einer SE leiden oftmals auch unter psychiatrisch-psychosomatischen Erkrankungen. Ebenfalls gefördert durch den Innovationsfond der Krankenkassen wird das Projekt ZSE-Duo (https://www.ukw.de/behandlungszentren/zentrum-fuer-seltene-erkrankungen-zese/forschung/zse-duo/), welches sich insbesondere dieser Problematik annimmt. Natürlich wird auch generell an den klinischen Einrichtungen und über die ZSE Struktur eine psychologische bzw. psychosomatische Beratung angeboten, die allen Patienten bei Bedarf zur Verfügung steht."

Wo würden Sie sich noch weitere Unterstützung von Seiten der Politik und der Kostenträger wünschen?
Prof. Dr. med. Olaf Rieß: "Punkt 1: Das BMG hat mit dem Vorhaben „genomDE“ und dem Modellvorhaben §64e des SGB V eine hervorragende Ausgangsbasis für eine wegweisende humangenetische Diagnostik bei Verdacht auf eine SE geschaffen. Es wird in diesem Rahmen einen stark steigenden Bedarf an humangenetischer Beratungskapazität geben, für den wir in D zu wenig Humangenetiker haben. Dies liegt auch an Zulassungsbeschränkungen basierend auf alten Kapazitätserfassungen. Wenn wir über die SE hinaus in Betracht ziehen, dass wir in D zehntausende Patienten mit einer Tumorerkrankung zur zielgerichteten Therapie und gleichzeitig Tumorpatienten bei Verdacht auf eine genetische Ursache der Erkrankung umfassend sequenzieren, wird deutlich, dass wir einen großen Bedarf an umfassender Aufklärung benötigen. Die große Chance der Genomsequenzierung ist auch, dass wir Zusatzbefunde nach Aufklärung und mit Zustimmung des Patienten/der Patientin erheben (siehe auch GNAG Konsortium, https://www.gfhev.de/de/ueber-uns/kommissionen.html), neben erblichen Tumorerkrankungen auch erbliche Herzerkrankungen oder metabolische Erkrankungen (zB Hypercholesterinämie), also genetisch bedingte Erkrankungen für die es eine klare therapeutische Implikation gibt. Auf diesem Wege können wir für Hochrisikopersonen ganz gezielt für bestimmte Erkrankungen über die genetische Prädiktion eine Prävention der Erkrankungen erreichen. Auch daraus ergibt sich ein hoher humangenetischer Beratungsbedarf. Hier brauchen wir die Unterstützung der Krankenkassen und der Politik.
Punkt 2: Netzwerkförderung: Die beteiligten Einrichtungen müssen „gezwungen“ werden, eng zusammen zu arbeiten und entsprechende funktionierende, unbürokratische Netzwerkestrukturen im Sinne der Patientenversorgung zu schaffen. Dazu gehören meiner Meinung nach Register für Patienten mit den unterschiedlichen SE: Wir müssen wissen wieviel, wo, in welchem Krankheitsstadium, unter welcher Therapie die Patienten in D leben. Wir brauchen des Weiteren Register für die seltenen genetischen Varianten, dies ist im Rahmen des deutschen familiären Brustkrebskonsortiums für Brust- und Ovarialkrebs geschaffen worden und stellt einen erheblichen Mehrwert für die Qualität der Diagnostik dar. IDFs müssen lokal wie auch national mit allen Zentren erfolgen, letzteres auch um potentielle technische Probleme und Softwareanwendungen/Limitierungen zu diskutieren. Für einzelne Entscheidungen mag es wichtig sein, einen zentrumsübergreifenden Konsens zu erreichen. Diese Netzwerke müssen geschaffen und gepflegt werden, was durch die Politik unterstützt werden sollte.
Punkt 3: Datenschutz nicht über Patientenwohl stellen! Ultraseltene Erkrankungen können nur diagnostiziert werden, wenn man die genetischen Varianten des Patienten mit den Varianten von zig Tausenden Patienten vergleicht und dies muss unmittelbar erfolgen können, ohne dass man Anträge für einzelne Datensätze stellen muss. Man muss auch wissen, welche Symptome die Patienten der Referenzgenome haben und ggf. die referierenden Ärzte kontaktieren können. Es ist auch selbstverständlich, dass die Patienten selbst pseudonymisiert werden müssen, anonymisiert, also gar nicht mehr zurück verfolgbar, würde eine Diagnosestellung für jeden Patienten erheblich erschweren. Wir würden dann z.B. bei späteren Reanalysen der Genomdaten die bisher ungelöste Krankheitsursache finden, wüsten aber nicht, bei welchem Patienten. Der Diagnostikprozess würde erheblich erschwert, verlängert und verteuert werden. Hier muss die Politik die Rahmenbedingungen stellen, die ein verantwortungsvolles aber auch flexibles System zur ständigen Diagnostikverbesserung gewährleistet.
Punkt 4: Forschung: Panta Rhei: Wie in jedem sich schnell entwickelnden Fach bzw. Wissensgebiet, sind Technologien und Methoden von heute innerhalb weniger Jahre überholt, auch der Wissenszuwachs ist im Bereich der Genommedizin extrem schnell. Wir brauchen daher Forschungsnetzwerke, die sich interaktiv mit den Diagnostiknetzwerken entwickeln. Die heutigen Sequenziergeräte sind spätestens nach 3 Jahren überholt durch neuartige billigere und schnellere Technologien. Diese Geräte, wie auch Automatisierung und Bioinformatik sind teure aber auch sehr nützliche Investitionen, die nicht allein durch die Universitätsklinika zu stemmen sind. Die oben erwähnten DATF und DITF Netzwerke werden einen erheblichen Wissenszuwachs in D mit sich bringen, müssen aber finanziert werden. Sie sind auch die Grundlage für AI im Rahmen der Genommedizin, wo D weltweit eine führende Rolle einnehmen könnte. Den ersten Schritt mit der Implementierung der Genomsequenzierung in der Diagnostik haben wir nun schon gemacht. Eine umfassende Vernetzung mit klinischen Daten, Biomarkern und Imaging-Daten im Rahmen der Krankheitsprogression, aber auch von gesunden Individuen wird die Basis für eine effiziente Gesellschaft insbesondere bei bevorstehendem Arbeitskräftemangel darstellen. Hier müssen wir heute für die Gesundheit der Bevölkerung investieren. Auch wenn es hier primär um die SE geht, darf man nicht ausklammern, dass die selben Sequenzier-Technologien bereits jetzt eine individualisierte Therapie von Tausenden Patienten mit progredienten Tumorerkrankungen ermöglichen. Dies wird künftig sehr viel früher und damit noch effizienter in den Versorgungspathway von Tumorpatienten integriert werden; die Übergänge von seltenen genetisch bedingten Erkrankungen zu Volkserkrankungen verschwimmen immer mehr. Warum sollen wir einem Patienten/einer Patientin mit einer SE, nach Beratung und mit ausdrücklichem Einverständnis des Patienten, nicht gleichzeitig auch sein/ihr Lebenszeitrisiko für Diabetes oder eine Herzkreislauferkrankung mitteilen können, oder auswerten, welche Medikamente bei ihm/ihr wenig ansprechen bzw. sogar Nebenwirkungen erzeugen können? Komplexe Auswertung dieser Art sind bereits in Pilotprojekten Realität, können aber nicht Teil einer Krankenversorgungsfinanzierung sein. Hier muss die Forschungsunterstützung mit greifen, so lange wie die Versorgungspfade klar implementierbar sind."

Welche Meilensteine erwarten Sie in den kommenden Jahren für Betroffene einer seltenen Erkrankung?
Prof. Dr. med. Olaf Rieß: "Für jede Erkrankung haben wir im Wesentlichen 3 große Herausforderung: Diagnostik, damit die Erkrankung klar definiert werden kann und Therapie korrekt und gezielt angewandt werden kann, dann die Therapie selbst, und schließlich die Versorgungsnetzwerke. Vorhandene Diagnostik und mögliche Therapie zählt wenig, wenn der Patient darauf keinen Zugriff hat.
Bezüglich der Versorgungsnetzwerke haben wir in D in den letzten 10 Jahre ein Netzwerk von Zentren für SE (ZSE) an den Universitätsklinika geschaffen, an denen die Experten die jeweiligen Erkrankungsgruppen erstklassig betreuen. Dies geht auf einen Beschluss des BMG aus dem Jahre 2009 zur Umsetzung von „Maßnahmen zur Verbesserung der gesundheitlichen Situation von Menschen mit Seltenen Erkrankungen in Deutschland“  zurück, welches im Rahmen des Nationalen Aktionsbündnisses für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE) seit 2013 schrittweise umgesetzt wurde. Diese ZSEs werden gerade zertifiziert so dass einheitlich hohe Standards geschaffen werden und sie werden sich in den kommenden Jahren immer besser vernetzen.
Für die Diagnostik bei Verdacht auf eine SE hat das BMG in einer Gesetzgebung der letzten Regierung die Basis geschaffen, dass Patienten mit einer ungelösten Ursache nach einer Interdisziplinären Fallkonferenz an den ZSEs Anspruch auf eine Gesamtgenomsequenzierung haben (zur Erklärung: Es wird angenommen, dass ca. 80% aller SE eine genetische Ursache haben). Dies wird im Rahmen des Modellvorhabens §64e des SGB V ab 2024 umgesetzt werden. Dies ist weltweit erstmalig. Es wird auch die Basis sein, dass immer mehr Patienten, für deren Erkrankung es eine Therapie gibt, frühzeitig therapeutisch behandelt werden können. Es bleibt die Therapie als große Herausforderung für mehr als 6000 unterschiedliche SE. Wir hoffen, dass wir mit den ZSE Netzwerken und der herausragenden Diagnostik die forschende Pharmaindustrie wieder für Deutschland begeistern können, dass Therapiestudien auch wieder verstärkt in Deutschland durchgeführt werden."