Wenn nicht jedes Leben gerettet werden kann
Die Medizinethikerin Dorothee Dörr sieht Ärztinnen und Ärzte in tragischen Notsituationen wie der Triage von Politik und Gesetzgebung allein gelassen. Sie plädiert für eine rechtliche Neueinordnung solcher Entscheidungen.
Datum: 15.03.2021 / Ressort: Krankenhaus, Versorgung
Unser Gespräch findet kurz nach dem Jahreswechsel statt, den viele für eine Auszeit genutzt haben. Konnten Sie einfach wieder anschließen?
Dorothee Dörr: "Mir war klar, dass die Situation im Klinikum sehr angespannt werden würde. Deshalb stand ich auch während der Feiertage in engem Kontakt mit den diensthabenden Teams. Viele Kolleginnen und Kollegen konnten dieses Jahr nicht wie gewohnt Urlaub machen und sich deshalb auch nicht richtig erholen. Andererseits sind wir näher zusammengerückt, was in Zeiten größter Unsicherheit wohltuend ist."
Sie leiten das Klinische Ethikkomitee am Universitätsklinikum Mannheim. Was ist die Aufgabe dieses Gremiums?
Dorothee Dörr: "Wir unterstützen Kolleginnen und Kollegen, Patienten sowie deren Angehörige bei ethischen Konflikten. Wenn eine Patientin zum Beispiel nicht mehr entscheidungsfähig ist, helfen wir, den mutmaßlichen Willen zu ermitteln. Oder wir beraten bei schwierigen Entscheidungen, beispielsweise wenn das Therapieziel geändert werden muss, weil die Genesung des Patienten aussichtslos ist."
Bei Ihrer Arbeit geht es vor allem um Entscheidungen, die am Ende eines Lebens zu treffen sind?
Dorothee Dörr: "Ja, das ist häufig der Fall. Wir können Medizin heute unglaublich vielseitig einsetzen, und das erzeugt eine hohe Erwartungshaltung. Die Menschen haben sich daran gewöhnt, dass Medizin überall hineinspielt, Leben retten und helfen kann. Es geht um existenzielle Ängste, Hoffnung, aber auch Enttäuschungen. Und mit derartigen starken Gefühlen werden die Medizinerinnen und Mediziner im Klinikalltag konfrontiert. Wir begleiten die Entscheidungsträger mit Blick auf die ethisch-rationalen Argumente und suchen nach konsensfähigen Lösungen."
Hat sich Ihre Arbeit durch Corona verändert oder sogar zugespitzt?
Dorothee Dörr: "Ich habe in meinem Berufsleben nichts Vergleichbares erlebt. Nach der schrecklichen Situation in Bergamo war klar, dass wir uns auf ein solches Szenario vorbereiten müssen. Konkret ging es um die Frage, was zu tun ist bei absolutem Ressourcenmangel. Nach welchen Kriterien entscheiden wir, wer intensivmedizinisch versorgt werden soll? Von offizieller Seite gab es zunächst weder Leitlinien noch Empfehlungen. Wir als Ethikkomitee haben parallel zum Kriterienkatalog der ärztlichen Fachgesellschaften an Handlungsempfehlungen für unsere Region gearbeitet. Mittlerweile liegen Leitlinien der verschiedenen Gremien vor, von den ärztlichen Fachgesellschaften über die Wissenschaftsakademie Leopoldina bis zum Deutschen Ethikrat. Trotz allem, wirklich zufriedenstellend sind die Empfehlungen noch nicht."
Was stört Sie?
Dorothee Dörr: "Die unterschiedliche juristische Bewertung ärztlicher Triage-Entscheidungen. Stellen Sie sich folgendes Szenario vor: Auf der Intensivstation sind alle Kapazitäten ausgeschöpft. Patient A. hat eine marginale Überlebenschance und wird intensivmedizinisch versorgt. Patient B. benötigt dringend den Platz, damit sein Leben gerettet werden kann. Seine Erfolgsaussichten sind gut. Die Medizinerin oder der Mediziner könnte das Therapieziel bei Patient A. ändern und damit Patient B. intensivmedizinisch versorgen und retten. Aufgrund dieser Entscheidung würde Patient A sterben und Patient B eine Überlebenschance bekommen. Strafrechtlich betrachten Juristen diese Situation unterschiedlich."
Inwiefern?
Dorothee Dörr: "Die einen sehen in der ärztlichen Entscheidung den Tatbestand des Totschlags, die anderen betrachten die Situation als Pflichtenkollision bei der Rettung von Menschenleben. Die drohenden strafrechtlichen Konsequenzen bereiten Intensivmedizinerinnen und -medizinern große Sorge. Sie arbeiten in einer extrem angespannten Lage, die zudem häufig ein Handeln unter Zeitdruck erfordert. Sie fühlen sich zu Recht allein gelassen. Ich verstehe das verfassungsrechtliche Problem. Aber wir dürfen nicht außer Acht lassen, dass wir uns inmitten einer Pandemie befinden. Und es ist noch nicht auszuschließen, dass es zu einem absoluten Notstand kommt. Es bräuchte eine deutliche Vergewisserung, dass diejenigen, die vor solchen tragischen Triage-Entscheidungen stehen, angemessene Rückendeckung bekommen."
Wie könnte diese Rückendeckung aussehen?
Dorothee Dörr: "Zum Beispiel in einer von allen Seiten anerkannten und gesetzlich einwandfreien Verfahrensbeschreibung, an der sich Medizinerinnen und Mediziner orientieren können. Um es deutlich zu sagen: Bei einer Triage wird kein Mensch getötet und es wird auch kein Menschenleben gegen das andere abgewogen. Das Gegenteil ist der Fall: Es sollen Menschenleben gerettet werden, aber nicht jedes Leben kann gerettet werden. Vielleicht hilft diese Sicht, dass Notsituationen, die wir hoffentlich nicht erleben müssen, von der Gesetzgebung kategorisch neu eingeordnet werden."
Wie bereiten Sie Ihre Kolleginnen und Kollegen auf eine mögliche Triage vor?
Dorothee Dörr: "Generell orientieren wir uns an den Handlungsanweisungen der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin. Zwölf Ethik-Ansprechpartner stehen als quasi externe Personen bereit, die medizinischen Teams rund um die Uhr zu begleiten und zu beraten. Wir achten darauf, dass bei der Entscheidung alle wesentlichen Akteure eingebunden sind und dass ethische Prinzipien wie Fürsorge, Autonomie und Gerechtigkeit berücksichtigt werden."
Ist die Entscheidung, ob man einen Menschen aufgibt oder nicht, für denjenigen, der sie treffen muss, nicht immer auch fürchterlich?
Dorothee Dörr: "So unterschiedlich wie wir Menschen gestrickt sind, so hat jede Medizinerin und jeder Mediziner seine eigene Methode, mit belastenden Situationen umzugehen. Grundsätzlich ist es immer noch so, dass man als angehende Ärztin oder angehender Arzt darauf gedrillt wird, um jedes Leben zu kämpfen. Mir persönlich gefällt die Haltung, dass es nicht darum geht, Medizin für das Leben, sondern für den jeweiligen Menschen zu machen. Spätestens, wenn wir uns intensiver mit den hochaktuellen Fragen zum assistierten Suizid beschäftigen, wird deutlich, dass bei Ärztinnen und Ärzten, Pflegepersonen und gesamtgesellschaftlich ein Perspektivwechsel gefragt ist."
Haben ethische Fragen in der Medizin durch die Pandemie mehr Gewicht bekommen?
"Die Anfragen an das Ethikkomitee haben zugenommen. Kolleginnen und Kollegen ist es wichtig geworden, ethisch-rechtliche Fragen zu klären und die moralische Legitimität von Handlungen zu besprechen. Das Interesse lässt sich allerdings nicht nur auf die Pandemie zurückführen. Laut Prognosen wird Künstliche Intelligenz künftig in vielen Bereichen der Medizin einsetzbar. Was Menschen ethisch im Einzelfall für geboten, erlaubt oder verboten halten, können Algorithmen aber nicht angemessen abbilden. Ethisches Argumentieren und Abwägen findet nun mal immer im kulturellen, gesellschaftspolitischen Kontext statt. Auch deshalb glaube ich, dass die Medizinethik in Zukunft an Bedeutung weiter gewinnen wird."
Mit Haltung:
Dörr plädiert für eine Medizin, die nicht das Leben, sondern den Menschen zum Mittelpunkt hat Dr. med. Dorothee Dörr. Die Ärztin ist seit 2014 Vorsitzende des Klinischen Ethikkomitees (KEK) an der Universitätsmedizin Mannheim, das sie auch leitet. Dorothee Dörr wurde in Brüssel geboren und ist in Rom aufgewachsen. Sie studierte in Freiburg Medizin und promovierte zur Fachärztin für Anästhesiologie an der Universität Bonn. Darüber hinaus absolvierte sie ein Masterstudium in Medizinethik und ist unter anderem Mitglied der Akademie für Ethik in der Medizin.
Dieser Text ist nachzulesen im Agenda Gesundheit Magazin Ausgabe 01/2021.